Die Greisin  

Wieder seh´ ich sie dort sitzen,
die Greisin mit dem weißen Haar -
Witz und Neugier, sie erblitzen,
aus dem wachen Augenpaar.
Falten furchen ihre Stirne,
ihre Wangen und den Mund -
eingekerbte Lebenszwirne,
beigebracht vom Sorgenbund.

Sie sitzt da, genießt die Sonne,
hebt die Tasse und trinkt Tee -
schließt die Augen fast vor Wonne,
jene alte Huzelfee.
Still beobachtet sie Leute,
die an ihr vorbei flanieren -
eilig hetzen hier und heute,
oder lässig paradieren.

Klugheit spricht aus ihrem Wesen,
und Zurückgezogenheit -
alles an ihr ist belesen,
es umhüllt sie Sinnlichkeit.
Sie sitzt dort ganz weltvergessen,
ist sich selber ganz genug -
Einsamkeit die sich vermessen,
wirbelt um sie wie ein Trug.

Schwere Bürden aufgeladen,
hat ihr wohl das harte Leben -
unruhig zittern ihre Waden,
doch sie hat nie aufgegeben.
Sie sitzt dort und trinkt genügsam,
ihren Tee ist er auch kalt -
stolz im Alter und doch fügsam,
viel hat sie dafür bezahlt.

Sie umweht der Hauch von Freiheit,
und ist angefüllt mit Mut -
steht ein für der Menschen Gleichheit,
welches ist das höchste Gut.
Wird auch mancher Weg sie dämpfen,
welcher steinig ist und steil -
aber immer wird sie kämpfen,
ist auch noch so scharf das Beil.

Trauer kleidet wie ein Mantel,
zart wie Seide grau sie ein -
in dem langen Lebenswandel,
wirkt sie zierlich fast und fein.
Sie steht auf, ich seh´ Gespenster,
heißer Schrecken durchfährt mich -
was sich spiegelt da im Fenster,
diese Greisin, das bin ich!

         (Elisabeth Rosing)